Monatsrückblicke

Zwischen den Welten: Wenn wir nicht mehr für Kinder kämpfen – für wen dann?

By 20.09.2025September 26th, 2025No Comments

Ich erinnere mich an ein Wohnzimmer, das ich nie vergessen werde. Eine alleinerziehende Mutter, Anfang dreißig, drei kleine Kinder, und eine Depression, die sich durch ihren Alltag zog. Sie konnte nicht mehr arbeiten. Nicht mehr durchhalten. Es gab kein Kinderzimmer. Nur einen kleinen Raum, in dem ein alter Schreibtisch stand, die Ecken abgesplittert. Zerrissene Tapeten. Auf dem Tisch lagen drei abgenutzte Buntstifte, so kurz, dass man sie kaum noch greifen konnte. Auf dem Boden lag ein einziges Kinderbuch – mit herausgerissenen Seiten, fleckig vom vielen Blättern, zu oft, zu lange das Einzige.

Die Mutter hatte Nudeln auf dem Herd, Jobcenter-Briefe auf dem Tisch und den einjährigen Sohn auf dem Arm. Und ich saß ihr gegenüber, damals noch als Sozialarbeiterin, mit einem Bescheid in der Hand, der alles zunichte machte. Ich musste ihr sagen, dass das Jobcenter ihr keine Leistungen mehr zahlen würde. Wegen eines einzigen Kontoauszugs.

Sie sah mich an, mit einem Blick, der keine Tränen mehr übrig hatte. Und sie fragte:

„Wie soll ich denn die nächsten zwei Wochen mit diesen Kindern überstehen? Ich hab nicht mal Geld für den Bus, um sie in die Kita zu bringen. Dann hab ich auch kein Geld für Nudeln.“ Diese Sätze haben sich eingebrannt. Weil sie so leise waren und gleichzeitig so laut. Und ich saß da. Wütend. Mitten im Versagen eines Staates, der vorgibt, die Schwächsten zu schützen und ihnen das Letzte nimmt.

Ich habe in all den Jahren, in all den Wohnzimmern und Gesprächen gelernt:

Man fällt nicht einfach so durch dieses System. Dieses System wirft sie mit voller Absicht hindurch. Man fällt nicht durch dieses System. Man wird Schritt für Schritt hinausgeschoben.

Der Sozialstaat wird nicht nur plötzlich angegriffen, sondern langsam erstickt. Durch eine Bürokratie, die zermürbt, kontrolliert und am Ende die Würde frisst. Menschen werden nicht als Menschen gesehen, sondern „Fälle“.„Missbrauchspotenzial“. Statistiken und als Menschen zweiter Klasse. Und wer einmal gefallen war, galt als selbst schuld. Krankheit, Arbeitslosigkeit, Schicksalsschläge – alles wird zur Schwäche umgedeutet. Als wäre Verlieren eine Entscheidung, dachte ich.

Und als ich im Ausschuss kritisiere, dass Sanktionen das Kindeswohl gefährden, ist die Antwort: „Kinder sind doch nicht betroffen.“ Doch, sie sind betroffen. Weil ihre Eltern betroffen sind. Weil die Angst der Mutter am Esstisch sitzt. Kinder merken und tragen alles. Weil Existenzangst, weil Hilflosigkeit, weil Erniedrigung im Alltag der Eltern immer im Leben der Kinder landet. Im Kühlschrank. In der Gesundheit. In der Seele.

Das war kein Einzelfall. Das war der Alltag der Menschen, die ich als Sozialarbeiterin jahrelang gesehen habe. Was ist das für ein Land, das seine eigene Zukunft schon in der Gegenwart aufgibt? Wie kann man Kindern das Brot nehmen und sich dann über ihre „fehlende Bildungsteilhabe“ wundern? Wie kann man in diesem Land eigentlich noch atmen, ohne zu ersticken an dieser Kälte?

Ein Jahr später sitze ich in einem anderen Raum. Ein Konferenzsaal in Bundestag. Saubere Tische. Wasserflaschen, Designeranzüge und genügend Essen. Dr. Tanya Haj-Hassan und Dr Greame Groom sprechen. Sie sind Ärzte und waren in Gaza. Sie haben die verbrannten Körper von Kindern gesehen, wie kleine Finger zu Asche werden, wie ein Mädchen noch schreit – und dann verstummt, weil ihr Körper nicht mehr kann. Sie erzählen von Babys, deren Leichen man in Plastiktüten legen musste. Sie sprechen leise, klar und den Tränen nahe.

Ich sehe mich im Raum um. Vor mir Abgeordnete. Christlich. Demokratisch.

Und während Dr. Tanja Haj-Hassan von toten Kindern erzählt, sehe ich, wie Köpfe geschüttelt werden. Über das, was sie ausspricht. Sie sehen die Bilder – und verteidigen die Täter. Sie leugnen, dass israelische Soldaten auf Kinder geschossen haben. Gezielt in Kinderköpfe. In ihre kleinen Brustkörbe. In ihre Herzen. Wie kann man so reden, nachdem man Kinderleichen gesehen hat? Wie kann man da sitzen – mit gefalteten Händen,trockenen Augen, kaltem Herzen und behaupten, das sei Politik mit Moral?

Heute ist Weltkindertag.

Für wen kämpfen wir noch – wenn nicht für Kinder? Für wen machen wir all das, wenn nicht für genau die, die sich selbst nicht schützen können? Diese Kinder sind nicht „gestorben“. Sie wurden ermordet.

Auch mit deutschen Waffen. Mit politischer Absicht. Und durch das Schweigen der Welt. Die Welt hätte sie retten können. Aber sie haben weggeschaut.

Ob im deutschen Wohnzimmer oder unter den Trümmern Gazas. Kinder sind Kinder. Sie träumen dieselben Träume: von Sicherheit, von Spielen, von einer Zukunft. Sie malen dieselben Sonnen in die Ecken ihrer Bilder. Mit denselben drei Buntstiften, die zu kurz sind. Sie alle sind zerbrechlich. Und sie alle sind abhängig: von unserer Haltung, von unserer Menschlichkeit, von unserem Mut, hinzuschauen und nicht mehr zu schweigen.

Kinderrechte enden nicht an Grenzen.

Wenn ihr wüsstet, wie viele Kinder in diesem Land abends hungrig und ängstlich ins Bett gehen. Wenn ihr sehen würdet, wie viele Kinder in Gaza nie wieder aufwachen.Wenn ihr auch nur eine dieser kleinen Stimmen wirklich hören würdet – würde euch das Herz brechen.

Und vielleicht, endlich, würdet ihr anfangen zu handeln.