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Monatsrückblicke

Zwischen den Welten: Was bleibt unsichtbar?

By 20.06.2025Juli 2nd, 2025No Comments

Ich bin unterwegs zum Bundestag.

Vorbei an Menschen, die zusammengerollt auf Kartons schlafen, führt der Weg durch eine Realität, die viele übersehen. Einzelne wenige kenne ich mittlerweile mit Namen.

Einer fragt mich heute früh: „Was machst du eigentlich den ganzen Tag da drüben?“ Ich antworte: „Ich frag mich das auch manchmal“.

Aus der U-Bahn hinaus, hinein ins Regierungsviertel – ein Schritt zwischen zwei Welten. Und ich frage mich: Wie viele Welten können eigentlich zwischen zwei Stationen liegen?

Ich bin im Reichstagsgebäude und hier riecht nichts mehr nach dem Draußen. Hier riecht es nach Macht, nach Sauberkeit, nach etwas, das sich von der Realität abkoppelt.

Im Plenarsaal angekommen, ist es wie ein Vakuum. Worte kreisen, Rhetorik prallt auf Rhetorik. Viele reden, wenige sagen wirklich etwas. Und ich sitze da, höre zu, sehe zu – und denke immer wieder: Reden wir hier gerade über die gleiche Welt?

Abgeordnete sprechen über Armut, als wäre sie bloße Theorie. Es fallen Sätze wie: „Wir dürfen nicht alle aufnehmen“, „Deutschland ist überfordert“ und „Die Menschen müssen mehr Eigenverantwortung zeigen“. Ich blicke in Gesichter, die keine Falten von Sorge tragen. Die kein einziges Mal erlebt haben, was es bedeutet, in einem muffigen Flur des Jobcenters zu sitzen und nicht zu wissen, wie man den nächsten Monat übersteht und wie es sich anfühlt menschenverachtend von verschiedenen Behörden abgewiesen zu werden.

Und als ich an einem Sitzungstag, an dem der deutsche Außenminister Wadephul ankündigt, dass Israel selbstverständlich weiterhin mit Waffen unterstützt wird, ein Shirt trage, auf dem „Palestine“ steht, dauert es keine fünf Minuten. Die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner lässt mich aus dem Plenarsaal werfen. „Verstoß gegen die Kleiderordnung“, heißt es. Aber Julia: Ist es nicht ein Verstoß gegen jede Menschlichkeit, was dort im Nahen Osten passiert? Ist es nicht auch ein politisches Statement, jeden Tag schweigend dort zu sitzen, während draußen Bomben fallen? Ist es nicht ein Verstoß gegen die Würde des Hauses, dass euer Kanzler aktiv einen Genozid in Gaza ermöglicht? Julia, es ist nicht die Kleiderordnung. Empathie hat hier einfach keinen Platz.

Was an diesem Tag in mir vorging, hatte nichts mit der lächerlichen Maßregelung zu tun. Sondern weil ich gespürt habe, wie dünn der Faden ist, an dem die Verbindung zur Wirklichkeit hängt. Und wie schnell man zum Störfaktor wird, wenn man nicht nur dabei sein, sondern etwas verändern will. Wenn man nicht im Bundestag ist, um Designeranzüge zu tragen, sondern um für Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu kämpfen.

Wenn man vor allem eine junge, linke und noch migrantische Frau ist, die in den DEUTSCHEN Bundestag eingezogen ist. Ja, dann wird man schnell zum Störfaktor.

Im Ausschuss frage ich mich, wie wir über Menschenwürde diskutieren, als ginge es um ein kompliziertes Gesetz – dabei steht alles im Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Warum wird das noch verhandelt? Warum dauert es Jahrzehnte, um Schutzräume oder Rechte zu schaffen, obwohl alles Nötige längst da ist? Die bittere Wahrheit ist: Es geht nicht um Menschlichkeit, sondern um Macht – wer sie hat, wer sie behält und wer sie nie bekommen soll. Perspektiven werden nicht geschaffen, das System wird stabil gehalten – auf dem Rücken der Schwächsten.

Nur eine Haltestelle entfernt verlieren Menschen Wohnung, Arbeit und Mut. Kinder fühlen sich hier nicht zugehörig, junge Menschen verlieren ihre Träume – nicht auf einmal, sondern Stück für Stück. Was wir hier tun, ist keine Ermächtigung, sondern Verwaltung der Hoffnungslosigkeit. Menschen werden entmutigt, in Angst und Stillstand gehalten. Als Sozialarbeiterin hörte ich in den letzten zehn Jahren oft: „Ich hab die Hoffnung verloren“. Und das zerbricht mir das Herz – denn ohne Hoffnung ist das Leben leer.

Aber ich verstehe das. Denn dieses System wurde nicht für uns gemacht. Es wurde gebaut, um zu funktionieren, nicht, um zu fühlen. Es belohnt, wer anpasst. Es duldet, wer schweigt. Und es bekämpft, wer aufsteht.

Jetzt spüre ich wütend vor Ort, wie fest diese Wände sind. Wie gut sie gebaut wurden, um jede Unruhe draußen zu halten. Aber ich glaube an die Risse. Und ich glaube an das Licht, das manchmal durch sie fällt.

Ich will, dass Menschen wieder wissen: Es geht um euch.

Ich schreibe das, weil ich will, dass ihr wisst, was hier passiert. Und was nicht passiert. Ich werde schreiben, weil ich will, dass ihr mitgenommen werdet – auch in diesen widersprüchlichen Raum, wo Macht konserviert wird wie ein altes Porzellan.

Doch im ICE zurück in den Ruhrpott denke ich: Trotz dieser dicken Wände ist Aufgeben keine Option. Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit muss weitergehen. Und das wird er.